Vortrag von Hildegard Wind
Psychosomatische Klinik Bad Neustadt/Saale am 11./12. Juni 2010
Hast Du Glück, ist es gut.
Hast Du kein Glück, ist es auch gut. Hast Du eben Pech gehabt.
War vielleicht Dein Glück.
dies stellte Kurt Tucholsky schon vor hundert Jahren fest, und vor wenigen Tagen kommentierte der Sportjournalist Christian Zaschke in der SZ den WM Ausfall von Ballack folgendermaßen:
„Es gibt vermutlich kein Ungemach, das nicht schon mit dem Zusatz „….kann auch eine Chance sein“ beschrieben worden ist. Das Studium von Publikationen aller Art, gedruckt wie online, vertieft den Eindruck, dass der Herzinfarkt ebenso Chance sein kann wie die Insolvenz, der demografische Wandel, Krebs, das Bohrinselunglück, die Finanzkrise oder der Verlust des Arbeitsplatzes. Dann sollte auch die Knöchelverletzung von Michael Ballack sich irgendwie zu einer Chance umdeuten lassen, nicht wahr?“
Nun, man darf also gespannt sein, ob unsere ballackfreie Nationalelf im internationalen Vergleich die potentielle Chance wahrnimmt.
Gestatten Sie mir, noch einen Augenblick beim Sport zu bleiben. Den meisten von Ihnen wird der amtierende Boxweltmeister Vitaly Klitchko ein Begriff sein. Nachdem er vor einigen Jahren einen Box-Kampf gegen Lenox Lewis auf desaströse Art und Weise verloren hat, stellte ihm danach ein Journalist die Frage, wie er wohl diese Niederlage verkraften würde. Seine Antwort war so kurz und trocken wie seine rechte Gerade:
“Gehst Du auf Boden, Zähne beißen, weitermachen“.
Nun, da hätten wir also einen ersten prägnanten Ansatz der Krisenbewältigung. Einen ganz anderen Ansatz liefert uns die Tennislegende Billie Jean King.
„For me, losing a tennis match isn’t failure, it’s research”. (Ein Tennismatch zu verlieren hat für mich nichts mit Versagen zu tun, sondern gibt mir die Möglichkeit, Forschung zu betreiben).
Sie sehen, wir haben es hier mit zwei Ansätzen der Krisenbewältigung zu tun, wie sie konträrer nicht sein könnten: Klitchko-Durchhalteparole kontra Billie-Lean-King-Research, wenn man so will…
Aber wie sieht es bei uns Künstlern mit der Krisenbewältigung aus? Schließlich bleiben ein Roberto Villacon, ein Leon Fleisher, ein Vladimir Horowitz ebenso wenig von Form- und Schaffenskrisen verschont wie der ambitionierte Musikstudent, der womöglich mit falsch verstandener Übedisziplin seine körperliche und seelische Gesundheit im wahrsten Sinne des Wortes „vergeigt“.
Auslöser
Auslöser von künstlerischen Form- und Schaffenskrisen können bekanntermaßen unterschiedlichste Ursachen haben. Zum einen sind da psychische wie psychosomatische Ursachen (Auftrittsangst, Mobbing, Burnout, Depression, Stress, Demotivation, u.v.a.) und zum andern auch physische Ursachen, die unfall- oder überlastungsbedingt sein können und mit Schmerzen, Krämpfen, Bewegungseinschränkung oder gar –unfähigkeit einhergehen können.
Wie im Einzelnen therapeutisch vorgegangen werden muss, mag ein eigenes Thema für sich sein und würde den Rahmen meines Vortrags sprengen, abgesehen davon, dass meine Kompetenzen nicht im medizinischen sondern im künstlerisch-pädagogischen Bereich liegen.
Auswirkungen und Auswege
Künstlerische Form- und Schaffenskrisen äußern sich nicht selten darin, dass Musikern die vermeintliche Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit des Spiels (und manchmal auch des Seins) verloren geht, dass technische Abläufe nicht mehr reibungslos gelingen und klangliche Ergebnisse nicht befriedigen. Ein variabler, durchlässiger Umgang mit Körper und Instrument scheint mit zunehmender Dauer und Intensität der Krise kaum mehr möglich zu sein und letztendlich geht es nur noch darum, irgendwie zu funktionieren. Verstärkt wird dies dadurch, dass man gerade auch als Berufsmusiker häufig unter Zugzwang steht, auf den Punkt genau eine optimale Leistung erbringen zu müssen. So setzen Musiker mitunter als letzte Option nicht selten größte Willenskraft ein, um das gewünschte Ergebnis dann doch noch irgendwie erreichen oder geradezu erkämpfen zu können.
In manchen Fällen mag ein solcher Kampf, eine solche Willensanstrengung physisch gut gehen und auch zu einem künstlerisch ausreichenden Ergebnis führen. Aber ob dadurch eine Krise überwunden werden kann oder nicht vielleicht sogar verschärft wird? Naheliegend mag es ferner sein, dass eine derart unökonomische Handlungsweise sogar überhaupt zur Entstehung einer Krise beitragen kann.
Auch Yehudi Menuhin blieb ja bekanntermaßen nicht verschont von einer Form- und Schaffenskrise. Zu der Erkenntnis, dass seine Leistung teils erzwungen war, kam er auch erst im Nachhinein bei der Aufarbeitung seiner Krise:
„Jetzt ist mir klar, dass ich damals nicht wusste, wie man sich entspannt. Ich spielte die Geige zwar sehr gut (wie die frühen Aufnahmen beweisen), aber ich wusste nicht, wie man sie eigentlich spielen sollte. So war meine Leistung immer ein Willensakt und konnte im Zustand der Erschöpfung nicht immer befriedigend ausfalle
Es ist für mich als Feldenkraispädagogin natürlich auch besonders interessant, dass Menuhin bei seiner Suche nach Auswegen aus der krisenbedingten Unsicherheit offenbar auch die Hilfe von Moshé Feldenkrais in Anspruch genommen hat. Vielleicht hat ihn dabei ja u.a. das Argument von Feldenkrais überzeugt, dass Willenskraft, so wie sie Menuhin bei seinem Spiel ja empfunden hat, hauptsächlich dazu beiträgt, die Fähigkeit zu entwickeln, sich anzustrengen und keineswegs dazu, künstlerische Qualität zu erreichen.
Menuhin nutzte seine Krise wohl tatsächlich als Chance, sich zu erforschen, sich anders zu organisieren, sich neu zu erleben, sich vielleicht überhaupt erst einmal wahrzunehmen als Mensch, als Persönlichkeit und nicht nur als geigendes Wunderkind, das zu funktionieren hat.
Sehr beeindruckend schildert Menuhin seine sicher auch aufgrund der Krisenbewältigung neu erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten z.B. in dem Buch „Lebensschule“:
„Meine Grundregel für das Spielen“, schreibt Menuhin, „ist umfassend und ganz einfach: nach Gleichgewicht streben. Das vollkommene Gleichgewicht ist freilich ein unerreichbares Ideal, eine vielschichtige und unendlich komplizierte Angelegenheit. Dennoch kann man eine Art statisches Gleichgewicht erreichen, wenn man begreift, dass kein Körperteil sich bewegt, ohne eine entsprechende Reaktion in einem anderen Körperteil auszulösen. […] Unser höchstes Ziel ist also, ein Gefühl für geringste Gewichtsverlagerungen und Schwankungen zu entwickeln. Dieses Gefühl kann nicht fein genug sein. […] Jeder Teil des Körpers bewegt sich dann am besten, wenn er sich in Harmonie mit den anderen Knochen, Muskeln und Gliedern bewegt.
Für das Geigenspiel ist es wichtig, dass man eine deutliche Vorstellung vom eigenen Körper besitzt und von dem Raum, den man beim Geigen beansprucht.
Für mich ist das Geigen ein Vorgang, bei dem sich der Körper des Spielers seiner selbst und seiner inneren Harmonie bewusst ist.“
Menuhins Spielideal ist es also, biomechanischen Gesetzmäßigkeiten zu folgen, Bewegungsabläufe wahrzunehmen – folglich den kinästhetischen Sinn zu nutzen – und sich so in gewisser Weise ganzheitlich zu erleben.
Zu ähnlichen Erkenntnissen kamen auch andere Musikerkollegen und Zeitgenossen Menuhins wie z.B. der Klavierpädagoge Harold Taylor (1914-93). Er war davon überzeugt, „[dass] gutes Klavierspiel nicht erreicht [wird], indem man den Widerstand des Instruments bricht, sondern durch Ausschaltung der Widerstände in einem selbst“.
Kinästhetik und Eigenverantwortung im Instrumentalunterricht
Kinästhetik im wahrsten Sinne des Wortes ins Spiel zu bringen, ist also, wie man den erwähnten Zitaten entnehmen kann, demnach gar nicht so neu. Dennoch ist meines Erachtens eine kinästhetische Schulung bis heute noch zu selten ein selbstverständlicher Bestandteil des Instrumentalspiels und Instrumentalunterrichts. Instrumentalisten haben oftmals erstaunlich wenig Gespür für den eigenen Körper (das gesteht man eher den Sängern zu) und eine Auseinandersetzung mit dem Körper findet auch oft erst dann statt, wenn er nicht mehr in gewohnter Weise funktioniert. Darüber hinaus sind auch nicht wenige von uns Musikern damit groß geworden, Lerninhalte im Instrumentalunterricht einfach solange nach Anweisung schablonenhaft und mechanisch zu wiederholen, bis sich diese dann, so Gott will, eines Tages zu einer automatisierten und verlässlichen Bewegung entwickelt haben. Funktioniert ja auch…manchmal.
Der Blick hinter die Kulissen des Instrumentalunterrichts sorgt allerdings bisweilen für Ernüchterung.
Bsp. 1:
So berichtet z.B. ein Schüler, die Anweisung seines Geigenlehrers bezüglich der „richtigen“ Haltung der linken Hand am Geigenhals nur bei Einnahme stärkster Schmerzmittel ausführen zu können.
Bsp.2:
Ein Klavierstudent sollte beidhändig Oktaven mit Daumen und Mittelfinger (!) üben – nach kürzester Zeit konnte er jedoch dank beidseitiger Sehnenscheidenentzündung wieder damit aufhören… Er absolvierte dieses Kraft- und Dehntraining scheinbar ohne zu hinterfragen, wie diese Intention seines Lehrers, sollte sie denn überhaupt einen nachvollziehbaren Sinn gehabt haben, mit bestmöglichen Mitteln flexibel, effektiv und natürlich auch schmerzfrei umgesetzt werden könnte.
Es ist geradezu unheimlich, welchem Leidensdruck sich einige Musiker bisweilen unterwerfen und körperliche Beschwerden, die beim Üben auftreten, dann entweder als zu bekämpfendes Übel betrachten oder als persönliches Versagen.
Mir begegnen dann auch in meinem Feldenkraisunterricht immer wieder Musiker, die von einer teils katastrophalen Bewegungsstörung betroffen sind, die in vielen Fällen tatsächlich ursächlich mit einer über Jahre hinweg rigoros erteilten und blind ausgeführten Vorgabe des Lehrers zusammenhängt – mitunter dramatisch wird es dann, wenn in deren Ausbildungszeit mehrere Lehrer nacheinander vollkommen unterschiedliche Spielanweisungen weitergeben und durchsetzen wollten. Wenn dann nämlich eine bis dahin, meist unbewusst, mit Kraft und Willen ausgeführte Bewegung nun auf gleiche Art und Weise durch eine andere ersetzt werden soll, bricht mitunter das System (die Koordination und die Fähigkeit, natürliche Bewegungsabläufe auszuführen) vollkommen zusammen.
Ich empfinde es als außerordentlich wichtig, Musiker auf solch unheilvolle Zusammenhänge hinzuweisen und ihnen auch mögliche Wege aufzuzeigen, derartige Desaster bewältigen und zukünftig vermeiden zu können. Dazu gehört für mich u.a., sie zu lehren, was auch Menuhin für sich entdeckte, nämlich biomechanische Gesetzmäßigkeiten wie auch ihre individuellen Besonderheiten diesbezüglich erkennen zu können und dementsprechend zu handeln. Anatomisches Wissen soll dabei kinästhetisch erforscht werden, um in der Lage zu sein, den bestmöglichen Umgang mit sich und dem Instrument erspüren zu können und nicht einfach nur Anweisungen blind auszuführen.
Manch ein Musiker bemerkt dadurch für sich sofort eine große Erleichterung des Spiels und kann das neu Gelernte dauerhaft umsetzen, aber interessanterweise gibt es auch Musiker, die sich anfänglich kaum trauen, selbstständig neu entdeckte Bewegungsabläufe anzunehmen, obwohl sich diese im Moment der Ausführung gut und somit „richtig“ anfühlen und anhören. Der Grund mag folgender sein: Werden dabei nämlich über Jahre hinweg angelernte und verinnerlichte (oder gar eingetrichterte?) Lehrsätze in Sachen technischer Ausführung schlicht – auf mein Zuraten hin – ignoriert und durch bislang nie gewagte oder geahnte aber funktionierende und gut auszuführende Alternativen ersetzt, da erscheint so manchem Musiker stante pede vor dem inneren Auge der gehobene mahnende Zeigefinger des Pädagogen aus früheren Unterrichtszeiten, der davor warnt, es ja nicht anders zu machen, als es der vorgegebenen alleingültigen Regel gemäß jahrelang gelehrt und gelernt wurde.
Viele müssen also erst einmal verkrustete Glaubensstrukturen oder überkommenen pädagogische Dogmen ablegen:
- dass nämlich nur der Lehrer bestimmen kann und darf, was richtig und gut ist.
- dass man als Schüler nicht ausreichend kompetent ist, selbstständig die Möglichkeiten seines Spiels auszuloten und zu erweitern.
- und dass schließlich die Verantwortung für das eigene Fortkommen der Lehrer trägt, der
dies ja mitunter auch unerbittlich einfordert.
Das, wie ich finde, Ideal im Lehrer-Schüler-Verhältnis und in der Vermittlung des Unterrichtsstoffs beschreibt Ivan Galamian (1903-81), einer der erfolgreichsten und anerkanntesten Geigenpädagogen weltweit. In seinem Buch „Grundlagen und Methoden des Violinspiels“ heißt es:
„Der Lehrer muss sich immer vor Augen halten, dass es sein höchstes Ziel sein muss, den Schüler zur Selbstständigkeit zu erziehen. Die Papageienmethode führt nicht zu solch einem Resultat. Oder wie es [Fritz] Kreisler formulierte: „Zu viel Unterricht kann schlimmer sein als zu wenig.“
Weiter schreibt Galamian an anderer Stelle:
„Die verschiedenen Methoden von heute lehren vieles, dem ich nicht zustimme.
[…] Da […]ist das heute übliche Beharren auf starren Regeln, die für jeden und für alles, was mit Violinspiel zu tun hat, gelten sollen. Das Aufstellen starrer Regeln ist ein gefährliches Verfahren, da Regeln eigentlich zum Vorteil der Schüler gemacht werden sollten, und nicht umgekehrt die Schüler zur Verherrlichung der Regeln missbraucht werden. […] Der Lehrer muss sich darüber im klaren sein, dass jeder Schüler ein Individuum ist mit eigener Persönlichkeit, mit den für ihn charakteristischen körperlichen und geistigen Besonderheiten, mit seiner ihm eigenen Art, an das Instrument und an die Musik heranzugehen. Hat der Lehrer dies einmal erkannt, so muss er dementsprechend mit dem Schüler umgehen. Natürlichkeit sollte sein oberster Leitsatz sein.
„Richtig“ ist nur, was für den einzelnen Schüler natürlich ist, denn nur das Natürliche ist bequem und nützlich. Die Bemühungen des Lehrers müssen deswegen darauf hinzielen, dass jeder Schüler sich mit dem Instrument möglichst wohl fühlt. Es ist bedrückend, wenn man an die vielen und unnatürlichen Theorien über Technik denkt, die gekommen und gegangen sind, und an die neuen, die noch immer dazukommen, die die Schüler zu einem dauernden Kampf gegen das selbstverständlich Natürliche gezwungen haben und infolgedessen gegen ein natürliches Herangehen an das Instrument. Solch einen Kampf hat bisher noch niemand gewonnen.“
Wie Recht er doch hat! Und man stellt mit Erschrecken fest, dass es in der heutigen Zeit, in unserem Kulturkreis, noch immer viel zu viele Musiker gibt, die kaum ein Gespür für natürliche Bewegungsabläufe entwickeln konnten oder durften.
Um Galamians wunderbare Gedanken und außerordentlich wichtigen Anregungen umsetzen zu können, müssten sich also einerseits Lehrer empathisch und kinästhetisch schulen und weiterbilden, denn eine maximale Sensibilität sich selbst gegenüber ist bis zu einem gewissen Grad auch Voraussetzung dafür, empfindsam zu sein für die – wie es Galamian beschreibt – charakteristischen körperlichen und geistigen Besonderheiten der Schüler.
Und andererseits, darüber bin ich mir als Geigenlehrerin durchaus im Klaren, kommt es auch unbedingt auf die Bereitschaft und Fähigkeit eines Schülers an, den mühelosesten, natürlichsten Weg überhaupt finden, gehen und erspüren zu wollen. Sich auch selbstständig weiterzuentwickeln, eigene Ideen einzubringen, das Gespür für die Richtigkeit des Tuns zu entwickeln und Eigenverantwortung zu übernehmen – und zwar nicht erst in einer Krise.
Auf beiden Seiten, auf Lehrer- wie Schülerseite, ist demnach noch erhebliches Entwicklungspotential zu sehen und vorerst noch echte Bewusstseinsbildung zu leisten.
Nun, eine Sache ist es, Eigenverantwortung beim Instrumentalspiel zu übernehmen und dabei auch Körperwahrnehmungstechniken einzusetzen, um künstlerische Fertigkeiten ausbauen und in gleichem Maße möglichen Krisen entgegenwirken zu können.
Kinästhetik und Eigenverantwortung bei Berufskrankheiten
Eine andere Sache aber ist es, wenn ernsthafte körperliche Beschwerden, die im Zusammenhang stehen mit dem Instrumentalspiel, zu einer Berufskrankheit und damit zu einer existentiellen Lebenskrise führen? Inwieweit können da Eigenverantwortlichkeit beim Umgang mit Körper und Instrument Sinn machen und Körperwahrnehmungstechniken eine echte Hilfe bei der Krisenbewältigung sein?
Mein eigenes Erleben, meine persönlichen Erfahrungen, mögen sicher nicht auf jeden und auf alle Fälle übertragbar sein, aber es sei mir gestattet, sie dennoch als beispielhaft in diesem Zusammenhang darzustellen.
Nachdem vor etlichen Jahren meine linke Hand wegen schwerster Koordinationsstörungen (aufgrund fok. Dystonie) ihren Dienst versagte, empfand ich es anfänglich als unumgänglich, diesen gestörten Körperteil gedanklich zu separieren, ihn, drastisch formuliert, abzuschnallen, um ihn dann losgelöst von mir quasi zur Reparatur zu verschiedensten Therapeuten und Pädagogen zu bringen.
Ich fühlte mich dann auch von vielen Lehrern, Ärzten und Therapeuten, die ich über Jahre hinweg aufsuchte, fachlich und menschlich gut betreut, aber in meinem speziellen und sicher nicht leichten Fall führte damals leider kein Weg eindeutig zu einem für mich befriedigenden Ergebnis. Erst allmählich wurde mir klarer, dass es wahrscheinlich wenig Sinn macht, mich als Persönlichkeit, als ganzheitliches Wesen aus dem Heilungsprozess herauszuhalten.
Meine durch die streikende Hand ausgelöste Krise zwang mich also schließlich (später habe ich es nicht mehr als Zwang sondern als Einladung betrachtet), mich doch endlich auch einmal mit mir selbst zu beschäftigen, mich mit mir auseinanderzusetzen, physisch, seelisch, gedanklich, mich bewegungstechnisch zu hinterfragen und eigenständig nach Lösungen zu suchen – aufbauend auf dem, was ich bislang schon an Erfahrungen hatte sammeln dürfen.
Es war dann sehr eindrücklich zu erleben, dass ich im Laufe der Zeit, es handelt sich hier wieder um Jahre, auch dank meiner Ausbildung zur Feldenkrais-Pädagogin, eine immer größer werdende Kompetenz und Sensibilität in Sachen Körperwahrnehmung entwickelte. Diese Kompetenz und Sensibilität halfen mir schließlich, mein gestörtes Verhältnis zu Körper und Instrument zunächst besser verstehen, analysieren und letztlich auch korrigieren zu können.
Es war sicher ein Weg mit vielen Höhen und Tiefen, aber ich spürte, dass es vorwärts ging, dass ich selbst in der Lage war, etwas zu ändern. Jeder kleine Fortschritt machte mich nahezu euphorisch und ich sah zunehmend wieder Licht am Ende des Tunnels. Immer wieder allerdings, wenn auch nur vorübergehend, wurde mein Enthusiasmus gebremst durch die Skepsis einiger Menschen in meinem Umfeld, die meine eigenen Entdeckungen und Erfahrungen als Einbildung oder Nonsens abtaten, obwohl sie bei mir spürbar funktionierten und ich sie als enorm hilfreich erlebte.
In gewisser Weise nachvollziehbar war diese Skepsis insofern, als manche meiner Erkenntnisse bis dato jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entbehrten.
Vielleicht bekannt aber noch nicht anerkannt eben wegen fehlender wissenschaftlicher Untersuchungen war damals beispielsweise, dass:
- allein Bewegungsvorstellungen entsprechende Reaktionen im Gehirn, Nervensystem und den Muskeln auslösen und dadurch auch das reale Spiel beeinflussen können
- das Nervensystem unbegrenzt in der Lage ist, sich zu verändern und weiterzuentwickeln und dass somit keineswegs körperliche Gewohnheiten oder falsch konditionierte, fehl koordinierte Bewegungsmuster, wie sie bei mir ausgeprägt waren, als Status quo und somit unumkehrbar zu betrachten sind
- eine taktil-haptische Stimulierung das Ich-Bild, das Körperbild beeinflussen und verändern kann
- visuelle Beeinflussung (Beobachtung anderer Musiker etc.) sich auf das eigene Bewegungsmuster auswirken kann – Stichwort Spiegelneuronen.
Nun, diese Dinge sind mittlerweile nachhaltiger erforscht, wissenschaftlich nachgewiesen und somit anerkannt, aber damals, vor nicht ganz 20 Jahren, erforderte es Mut, dem eigenen Gespür zu trauen und Eigenverantwortung zu übernehmen, als Ergänzung zu den pädagogischen und therapeutischen Unterstützungen, die ich damals bekam und ja auch dankbar annahm.
Je intensiver ich also die Wirkung biochemischer oder neurophysiologischer Reaktionen an mir erlebte und biomechanische Zusammenhänge entdeckte, auch ohne dass ich sie damals theoretisch als solche hätte erklären können, umso mehr wuchs die Ehrfurcht vor meinem Körper wie auch gleichzeitig das Vertrauen in ihn.
So wie 88 Tasten auf dem Klavier unendlich viele Klang- und Rhythmuskombinationen erlauben, so kann der Körper funktional auch in unendlicher Weise genutzt, geformt, beeinflusst und verändert werden. Und im Entdecken dieser Erkenntnis sah ich nach langen Jahren des vergeblichen Kampfes für mich die große Chance meiner Krise.
Seither gehört es selbstverständlich zu meinem Geigenspiel wie zu meinem Instrumental- und Feldenraisunterricht dazu, Spiel- und Bewegungsabläufe auch kinästhetisch zu beleuchten.
So beschäftigen mich beispielsweise immer wieder auf’s Neue Fragen wie die folgenden:
- Wirkt die technische Ausführung am Instrument ökonomisch oder, wie es Galamian bezeichnete, natürlich und fühlt sie sich auch so an? Und was bedeutet im konkreten Fall überhaupt natürlich?
- Wirkt die körperliche Umsetzung der musikalischen Vorgabe eher wie ein Kampf gegen oder ein Spiel mit der Schwerkraft?
- Spiegeln die Bewegungsabläufe die gewünschte musikalische Aussage wider?
Mich interessiert also heute nicht mehr nur, wie sich Töne, Phrasen, Läufe, Akkorde etc. anhören, sondern auch wie sie sich anfühlen, d.h. wie deren technische, klangliche und dynamische Umsetzung körperlich erlebt und ausgeführt wird.
So ist es beispielsweise interessant zu bemerken, wie sich Klang und Spielgefühl vollkommen verändern, wenn die Bogenführung des rechten Armes nicht nur separat betrachtet und erlebt wird sondern auch im Zusammenspiel mit der Aktivität bzw. Flexibilität der linken Schulter und des Brustbeins (um nur einmal das Naheliegendste zu erwähnen).
Oder ein anderes Beispiel: In Bachs Solosonaten und –partiten gibt es einige Sätze, die ausschließlich aus schnellen 16teln bestehen. Nicht selten klagen Geiger bei und nach dem Spiel dieser Sätze über eine Verkrampfung der linken Hand. Klar, dauernd 16tel, keine Pause, das ist schon anstrengend. Aber eine Überlastung der Finger- und Handmuskulatur könnte vermindert und auch verhindert werden, wenn die Finger der musikalischen Phrasierungen entsprechend unterschiedlich intensiv die Saiten berühren würden und wenn darüber hinaus nach technischer oder interpretatorischer Möglichkeit auch Saitenübergänge, Lagenwechsel oder auf leeren Saiten gespielte Töne genutzt werden könnten, sich für eine Millisekunde in Hand, Handgelenk und Unterarm zu entspannen, um sozusagen ballastfrei weiterspielen zu können. Dann wäre es für viele kein Kampf mehr sondern ein Genuss, dieses Stück zu spielen.
Musiker, die derartige Bewegungsqualitäten wahrnehmen können und verinnerlicht haben, dass bewegungstechnisches Lernen immer in Bezug zur musikalischen Interpretation stehen muss, berichten dann auch häufig, dass seither ihr Üben und ihr Spiel viel interessanter, effektiver und letztendlich auch „gesünder“ geworden ist.
Schlussbemerkung
Es gibt viele Möglichkeiten, Krisen zu erleben, sie zu bewerten und mit ihnen umzugehen.
Ich verstehe jeden Musiker, der emotional nicht in der Lage ist, Schwierigkeiten und Krisen als Forschungsaufgabe zu betrachten und die Chance eher in einer beruflichen Umorientierung sieht.
Ich verstehe auch jeden, der im Falle einer Krise frei nach Klitchko die Zähne zusammenbeißt und weiterkämpft wie bisher, ohne Ursachenforschung zu betreiben und die Mittel seines Tuns zu verändern.
Aber ich freue mich über jeden, der eine Krise dazu nutzen kann, achtsamer mit sich selbst umzugehen. Der die Genialität und Funktionalität des Körpers wie auch die physisch-psychischen Wechselwirkungen wieder oder erstmalig erlebt, bestaunt und bewundert, um schließlich auch zu entdecken, dass die Möglichkeiten, sich künstlerisch und persönlich weiterzuentwickeln, viel größer sind, als man es vielleicht je zuvor zu glauben gewagt hatte. Darin liegt für mich der eigentliche Gewinn in der Krise.
Und denken Sie an Murray Perahia, Roberto Villacon, Leon Fleisher und viele andere, die krisenbedingt längere Zeit aussetzen mussten: sie kommen im Idealfall als gestärkte und reifere Musiker und Menschen auf die Bühne zurück und werden frenetischer gefeiert als zuvor.
Diese Künstler werden sich bei künftigen Schicksalsschlägen wahrscheinlich dieselben Fragen stellen, wie der Bauer aus einer chinesischen Geschichte, die ich Ihnen am Ende meines Vortrags nicht vorenthalten möchte:
„Ein Bauer hatte ein altes Pferd für die Feldarbeit. Eines Tages entfloh das Pferd in die Berge, und als alle Nachbarn des Bauern sein Pech bedauerten, antwortete der Bauer: “Pech? Glück? Wer weiß?“
Eine Woche später kehrte das Pferd mit einer Herde Wildpferde aus den Bergen zurück und diesmal gratulierten die Nachbarn dem Bauern wegen seines Glücks. Seine Antwort war: „Glück? Pech? Wer weiß?
Als der Sohn des Bauern versuchte, eines seiner Wildpferde zu zähmen, fiel er vom Rücken des Pferdes und brach sich ein Bein. Jeder hielt das für großes Pech. Nicht jedoch der Bauer, der nur sagte: “Pech? Glück? Wer weiß?“
Ein paar Wochen später marschierte die Armee ins Dorf und zog jeden tauglichen jungen Mann ein, den sie finden konnte. Als sie den Bauernsohn mit seinem gebrochenen Bein sahen, ließen sie ihn zurück. War das nun Pech? Glück? Wer weiß?“
Literaturangaben:
Christian Zaschke:
„Die Stunde der Demokraten“
Süddeutsche Zeitung 18.05.10
Moshé Feldenkrais:
„Bewusstheit durch Bewegung“
Suhrkamp Verlag 1996
Harold Taylor:
„Das pianistische Talent. Ein neuer Weg zum künstlerischen Klavierspiel auf Basis der Lehren von F. Matthias Alexander und Raymond Thiberge“
Facultas wuv Universitätsverlag 1996
Yehudi Menuhin, Christopher Hope:
„Lebensschule“
Piper Verlag GmbH 1991
Ivan Galmian:
„Grundlagen und Methoden des Violinspiels“
Ullstein Hc 1995