Die Feldenkraismethode bei fokaler Dystonie


Paradigmenwechsel und Neustart mit allen Sinnen

von Hildegard Wind

Erschienen in: Gesund und motiviert musizieren. Ein Leben lang
Herausgegeben von Silke Kruse-Weber und Barbara Borovniak, Schott-Verlag, Mainz 2015

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„Menschen mit einer neuen Idee gelten solange als Spinner,
bis sich die Sache durchgesetzt hat.“ (Mark Twain)

Den folgenden Beitrag möchte ich als Motivations- und Inspirationshilfe betrachtet wissen für Musiker, die von fokaler Dystonie betroffen sind und Wege suchen, mitunter auch unkonventioneller Art, mit dieser Problematik umzugehen.

Fokale Dystonie

Fokale Dystonie ist eine äußerst vielschichtige, nicht eindeutig zu definierende Koordinationsstörung. Sie stellt für jeden Musiker, der davon betroffen ist, eine immense Belastung dar. Es kann sehr mühsam und langwierig sein, sich damit auseinanderzusetzen und aus dieser Situation wieder herauszufinden. Nicht selten geht aufgrund fokaler Dystonie auch eine Musikerkarriere zu Ende.
Die Symptome bei fokaler Dystonie reichen von unwillkürlich sich verkrampfenden Fingern bei Streichern, Pianisten, Gitarristen und anderen feinmotorisch arbeiteten Musikern bis hin zu Dysbalancen der Lippenmuskulatur bei Bläsern. Sie treten meist nur im Zusammenhang mit dem Instrumentalspiel auf.
Erklärungen und Ursachen hierfür sind bis heute nicht eindeutig zu benennen und reichen von genetischer Disposition, über Stress, übertriebenen Perfektionismus, Überlastung, Angst, unökonomisches Instrumentalspiel bis hin zu veränderten Gehirnstrukturen und – aktivitäten, die ein koordiniertes Spiel nur noch schwer oder gar nicht mehr ermöglichen. Prof. Dr. Altenmüller aus Hannover weist in seinem Vortrag am 27.10.2012 auf dem Musikmedizinsymposium in Luzern (CH) darauf hin, dass fokale Dystonie darüber hinaus auch immer mehr eine „kulturell“ bedingte Erkrankung zu sein scheint.

Im Folgenden versuche ich nun aufzuzeigen, welche Ideen, Erfahrungen und Ansätze mir persönlich, als von fokaler Dystonie betroffener Geigerin, geholfen haben, einen neuen Zugang zum Instrument zu finden und dadurch wieder ins Konzertleben zurück zu kommen.

Zwei grundlegende Einstellungen im Umgang mit fokaler Dystonie

1. Akzeptanz
Zunächst einmal gehört das Akzeptieren des Problems mit zum Wichtigsten, das es am Anfang zu lernen gilt. Dazu gehört, keinesfalls gegen diese Verkrampfungen anzukämpfen, d.h. mit Kraft und Willensanstrengung technische Übungen am Instrument stundenlang und automatisiert zu absolvieren oder zu trainieren – etwas, das man in unserer Übekultur ja durchaus als normal betrachtet. Eine solch „traditionelle“ Übepraxis verstärkt in der Regel eher die Symptomatik.

2. Eigene Wertempfindung
Ferner ist es notwendig, seinen Selbstwert als Persönlichkeit zu bewahren bzw. neu zu definieren, auch wenn das Spielen des Instrumentes nicht mehr möglich ist und der Applaus des Publikums ausbleibt. Das Selbstwertgefühl eines Musikers hängt in der Regel sehr stark von der Fähigkeit ab, sich, auch emotional, über sein Instrument ausdrücken zu können.
Sich von dieser Definition über das Instrument zu lösen, ist zwar äußerst schwierig aber unumgänglich, da ansonsten ständig ein Kampf gegen sich selbst stattfindet, der wiederum zusätzlich den Weg zurück zum Instrument erschwert.

Es geht also zunächst darum, durch Akzeptanz des Problems und des eigenen Selbst zu einer gewissen Form der Gelassenheit zu kommen. Aus einem solchen Zustand heraus ist es dann auch eher möglich, die Problematik aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
So könnte z.B. die Frage „Warum ist mir das passiert“ umgewandelt werden in ein „Wozu ist mir das passiert“. Dieses „Wozu“ ist ungleich sinngebender und zukunftsweisender als ein „Warum“, das an sich kaum noch Entwicklungspotential zulässt und mehr Verzweiflung in sich birgt, als dass es eine Lösung anbieten würde. „Wozu ist mir das passiert“ gibt mir die Möglichkeit, etwas daraus lernen zu können und mit Neugierde diese Mitteilung des Körpers aufzunehmen. Fokale Dystonie sollte daher auch nicht primär als Krankheit angesehen werden, die nur von außen behandelt wird und in der man sehr passiv bleibt, sondern vielmehr als erworbenes Problem, mit dem man sich durchaus eigenkompetent und aktiv auseinandersetzen kann. Wertvolle und hilfreiche Unterstützung bieten hierbei Körperwahrnehmungsmethoden wie beispielsweise die von Moshé Feldenkrais.

Moshé Feldenkrais (1904-1984) und seine Methode

Moshé Feldenkrais war zweifellos einer der Pioniere auf dem Gebiet der Körperwahrnehmungs- und Erfahrungsmethoden. Seine Methode zeichnet sich durch eine sehr vielschichtige Betrachtungsweise aus. So verarbeitet er in ihr sein als promovierter Physiker erworbenes Wissen u.a. bezüglich biomechanisch sinnvoller Abläufe, kombiniert dieses Wissen mit seinen Erfahrungen als Kampfsportler hinsichtlich ökonomisch wirkungsvoller Bewegungsabläufe und vervollständigt seinen methodischen Ansatz mit seinen Forschungserkenntnissen im Bereich der Pädagogik, Biologie, Neurophysiologie und Neuropsychologie.
Es geht ihm darum, bewusste Selbstwahrnehmung zu lehren, wobei ihm der klarste und zugänglichste Weg dahin die Bewegung zu sein schien. „Bewusstheit durch Bewegung“ lautet demnach auch das Kernthema der von ihm entwickelten Methode

„Das heißt nicht, dass […] einfach eine Handlung durch eine andere ersetzt werden soll. Es gilt vielmehr, die Art zu ändern, wie sie ausgeführt wird“.
(vgl. Feldenkrais 1978, S. 44)

„Wer seine Muskeln gebraucht ohne zu beobachten, zu unterscheiden und zu verstehen, handelt wie eine Maschine […] Zu solcher Arbeit bedarf es nicht des hochentwickelten Nervensystems des Menschen“.
(vgl. Feldenkrais 1978, S. 181)

„Fortschritte begabter Menschen entstehen dadurch, dass sie sich ihrer selbst inne sind, während sie tun“.
(vgl. Feldenkrais 1987, S.136)

Diese Aussagen von Moshé Feldenkrais lassen die Überzeugung reifen, dass vieles, was vor Ausbruch der fokalen Dystonie beim Spielen und Üben Gültigkeit hatte, in diesem Maße nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, und dass der Umgang mit sich selbst (physisch wie psychisch) sowie letztlich auch mit dem Instrument verändert werden muss und eben auch verändert werden kann. Es geht jetzt vielmehr darum, andere, ökonomischere Formen des Übens zu finden, neue Parameter anzusetzen, spielerischer und erwartungsloser mit sich und seinem Instrument umzugehen und letztlich wieder Vertrauen zu seinem Körper und zu seinem Instrumentalspiel aufbauen zu können.

Verbindung Gehirn-Körper

Viele von fokaler Dystonie Betroffene schildern, dass der Kopf den Körper nahezu gewaltsam zwingt, um den Erfolg zu kämpfen, es immer und immer wieder zu probieren, wenn nötig auch mit immer größerem Kraftaufwand. Dem Körper allerdings ist die Ausführung derartiger Gehirnbefehle irgendwann nicht mehr möglich, da er vollkommen in der Verkrampfung feststeckt. Spätestens hier sollten sich die Betroffenen folgende Fragen stellen:
– Wie möchte mein Körper eigentlich behandelt werden, um wieder „funktionieren“ zu können?
– Welche Signale sollte das Gehirn aussenden, um den Körper wieder zur „Kooperation“ zu bewegen?
– Welche Möglichkeiten gibt es, den Körper besser zu verstehen und von ihm ausgehend eine Verbindung zum Gehirn aufzubauen?

Schulung des allgemeinen Körperempfindens

Der Körper ist im Grunde genommen in seiner Gesamtheit das Ausdrucksorgan par excellence und es lässt sich, eine gewisse Achtsamkeit vorausgesetzt, sehr viel aus der Art und Weise ableiten, wie er sich uns mitteilt. Bei von fokaler Dystonie Betroffenen lässt sich oftmals feststellen, dass eben nicht nur der augenscheinlich gestörte Körperteil zur Verkrampfung neigt, sondern dass auch andere Bereiche und Funktionen des Körpers (Schultern, Brustkorb, Atmung etc.) in Mitleidenschaft gezogen sein können, es somit also durchaus zu Wechselwirkungen kommen kann.

Es wäre demnach sinnvoll, zunächst auch unabhängig vom Instrument, eine Schulung des allgemeinen Körperempfindens, das Erspüren biomechanischer Abläufe etc. vorzunehmen. Erst dann sollte man sich mit dem erkennbar betroffenen Körperteil differenziert auseinandersetzen. Andernfalls wäre es, laut Feldenkrais, so, als korrigiere man das Spiel einzelner falscher Töne auf einem grundsätzlich verstimmten Instrument.

Ich-Bild

Feldenkrais erwähnt oftmals den Begriff des Ich-Bildes:
„Wir handeln nach dem Bild, das wir uns von uns selbst machen. Ich esse, gehe, spreche, denke, beobachte, liebe nach der Art, wie ich mich empfinde. Dieses Ich-Bild, das einer sich von sich macht, ist teils ererbt, teils anerzogen, zu einem dritten Teil kommt es durch Selbsterziehung zustande.“ (vgl. Feldenkrais 1978, S. 19)

Dieses Ich-Bild, das sich in der Art und Weise des Handelns ausdrückt, wird beeinflusst durch Gefühle, Gedanken, Sinneswahrnehmung und Bewegung. All die genannten Faktoren stehen wiederum in gegenseitiger Wechselwirkung, wie sie im Folgenden kurz dargestellt wird.

– Gefühle, Gedanken und Bewegungsqualität

Gefühle, Gedanken und Emotionen lassen sich vielfach an der Körpersprache ablesen und beeinflussen die Bewegungsqualität des ganzen Körpers. Ein gutes Gefühl oder ein Gedanke an etwas Schönes und Wohltuendes kann sich z.B. äußern in entspannten Gesichtszügen, einer guten Körper-Balance und einem frei fließenden Atem. Im gleichen Maße kann umgekehrt ein ungutes Gefühl oder ein unangenehmer Gedanke (an eine Prüfung, schwere Stellen im Repertoire etc.) dazu führen, dass sich, aufgrund erhöhter Muskelspannung Gelenke (in Wirbelsäule, Schulter etc.) verschließen, was wiederum die Atmung sowie die Bewegungsqualität spürbar einschränken kann. Für den betroffenen Musiker heißt das, dass unter diesen Umständen die Bewältigung einer schwierigen Stelle nicht unbedingt einfacher wird…

Welcher Ausweg bietet sich hier an? Man könnte beispielsweise zum einen versuchen, über die Modifikation der Gefühle/Gedanken eine Veränderung im Bewegungsablauf zu erreichen oder zum anderen, in umgekehrter Richtung, über eine Veränderung des Bewegungsablaufs eine Beeinflussung der Gefühle/Gedanken zu erzielen. Für welchen Ansatz man sich hier letzten Endes entscheidet, hängt sicher sehr stark von der jeweiligen Situation ab, bzw. von der jeweiligen individuellen Einstellung.

– Sinneswahrnehmungen und Bewegungsqualität

Weitere, das Ich-Bild beeinflussende Faktoren, sind die Sinneswahrnehmungen. Die für Musiker besonders relevanten auditiven wie visuellen Sinneswahrnehmungen spiegeln sich ebenfalls sehr deutlich in der Körpersprache und wirken sich auf die Bewegungsqualität aus.

Auditiv: Beim Hören reagiert der Körper unterschiedlich auf Klänge, Lärm, Geräusche, Stimmen oder auch auf verschiedene Musikstile (Barock, Romantik, Pop, Heavy Metal). Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch bereits das Hören des eigenen Instrumentes bei Musikern mit fokaler Dystonie eine beklemmende und beengende Körperreaktion auslösen kann.

Visuell: spezielle Körperreaktionen können bei Musikern auch durch das Sehen ausgelöst werden wie beispielsweise beim Betrachten schwieriger Passagen im Notentext. Nicht selten kommt es dabei u.a. zu einer Spannung im Schulter- und Nackenbereich oder einer „Verkürzung“ der Wirbelsäule. Allein schon der Blick auf das eigene Instrument, das aufgrund fokaler Dystonie aktuell nicht mehr gespielt werden kann, führt im Sinne eines Pawlowschen Reflexes häufig dazu, dass sich Fehlspannungen einstellen.
Auch das Beobachten der Bewegungsabläufe von Mitspielern oder Pultnachbarn im Orchester wie auch die Art und Weise eines Dirigats können den Körper sehr stark beeinflussen.
Wissenschaftlich bestätigt werden derartige Beobachtungen durch den Nachweis der Existenz von Spiegelneuronen. Dabei handelt es sich um Nervenzellen, deren Aktivitätsmuster bereits beim passiven Betrachten einer Handlung in gleicher Weise aktiviert werden, als würde diese Handlung aktiv ausgeführt werden.

Kinästhetisch: Die Kinästhetik, die Fähigkeit, Bewegungen zu empfinden und bewusst zu gestalten, ermöglicht es uns schließlich, die oben genannten Einflüsse der Gedanken, Gefühle und Sinneswahrnehmungen auf den Körper nicht nur wahrzunehmen, sondern auf diese auch entsprechend zu reagieren und grundlegende Veränderungen vornehmen zu können.
Kinästhetik kann somit der Schlüssel zum Verstehen und Lösen dystonischer Zwänge sein!

Exemplarische Darstellung einer Feldenkrais-Einzelstunde
bei gestörter Fingerkoordination

Am Anfang jeder Unterrichtsstunde ist es notwendig, sich durch das Instrumentalspiel und das Gespräch ein Bild von dem Schüler und dem Ausmaß der Koordinationsstörung zu machen. Das Besondere ist, dass es bei diesem Gespräch nicht nur um den Inhalt dessen geht, was zur Sprache kommt, sondern auch um die Art und Weise, wie dieser Inhalt körpersprachlich vermittelt wird. So können sich schon bei diesem ersten Gespräch dem erfahrenen und aufmerksamen Pädagogen einige Bewegungsbesonderheiten und Einstellungen zeigen.

Ein zentrales Anliegen im Feldenkraisunterricht ist es, den Schüler kinästhetisch zu schulen. So wird ihm zunächst Zeit und Raum gegeben, den Körper gedanklich zu „scannen“, d.h. den aktuellen körperlichen „Ist-Zustand“ wahrzunehmen. In der Regel auf dem Rücken liegend, um alle gewohnten Bewegungsmuster besser ausschalten zu können, lässt man den Schüler nachspüren, wie u.a. der Körperkontakt zur Unterlage ist, welche Atemräume spürbar sind etc..

Ist damit eine erhöhte Präsenz im Körper entstanden, macht sich im nächsten Schritt der Feldenkraislehrer ein Bild von der Bewegungsqualität des Schülers, indem er auf behutsame Art und Weise Bewegungen für ihn ausführt. Der Schüler selbst bleibt dabei zunächst passiv und wird dadurch sensibilisiert für Zusammenhänge im Bewegungsablauf. Häufig ist bei derartigen „Bewegungstests“ zu erleben, dass die Gelenke von der Hand bis hin zur Schulter in keinerlei Verbindung zueinander stehen. Das lässt erahnen, dass der Versuch des Schülers, einzelne Finger unabhängig voneinander zu bewegen, ohne dass es zu einer Reaktion in den angrenzenden Körperbereichen kommt, unweigerlich stärker in eine Verkrampfung führt.

Auch physisch-psychische Wechselwirkungen werden im Unterricht erfahrbar gemacht. Blockierte, schwergängige Gelenke etwa können die Atmung wie auch die Atemräume einschränken und darüber hinaus ein Gefühl von Angst und Enge verursachen. Ebenso kann umgekehrt ein eingeschränkter Atem die Gelenkflexibilität negativ beeinflussen. Eine derartige körperliche Konstellation kann wiederum Angst auslösen. Letztendlich ist es auch denkbar, dass Angst (vor dem Versagen, vor erneuter Verkrampfung der Finger etc.) wiederum den Atem zum Stocken bringen und dadurch die Gelenke in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken kann.
Für derartige Zusammenhänge sensibilisiert, ist es dann für den Schüler auch eher möglich, zu erkennen, dass beispielsweise allein schon die mitunter angstauslösende Berührung des „Problemfingers“ den Atem zum Stocken bringen und Gelenke blockieren kann, wobei der Körper dabei in eine Art „Alarmzustand“ gerät.
Hat der Schüler solche Zusammenhänge erst einmal wahrgenommen, ist er auch eher in der Lage, sie zu verändern.

Üben und Körperwahrnehmung konkret am Instrument

Jeglicher Kontakt zur Saite/Taste sollte zunächst leicht, spielerisch, mit „offener“ und „weicher“ Hand stattfinden – keinesfalls sollte man mit fixierter Voreinstellung der Hand ans Instrument gehen.
Da es bei fokaler Dystonie darum geht, die Koordination zu verbessern, ist zuerst einmal eine behutsame Kontaktaufnahme zum Instrument notwendig. Bereits bei der Berührung der Saite/Taste, wenn nicht sogar schon kurz zuvor, entscheidet es sich, ob die Bewegung „gut“ werden wird oder nicht. Es ist entscheidend, sich dieses allerersten Momentes bewusst zu sein, um dadurch die Chance zu wahren, etwas zum Positiven zu verändern.

Werden die Finger hingegen gleich mit Kraft, Willenskraft und Anstrengung auf die Saite/Taste gebracht, führt das nicht unbedingt zu einer gesteigerten Koordinationsfähigkeit. Feldenkrais bemerkt in diesem Zusammenhang zu Recht, dass durch Willenskraft lediglich die Fähigkeit entwickelt wird, sich anzustrengen und sich daran zu gewöhnen, sehr viel Kraft für Handlungen zu brauchen, die man ebensogut mit viel weniger, aber richtig gesteuerter und dosierter Kraft ausführen könnte (vgl. Feldenkrais 1978, S. 88). Mit Anstrengung und Kraftaufwand etwas richtig machen zu wollen, reduziert eher die Aufnahmebereitschaft des Gehirns für Informationen. Dies findet seine Bestätigung im Weber-Fechner-Gesetz, wonach das Gehirn umso empfänglicher ist für Mitteilungen, die es braucht, um die Koordination zu verbessern, je geringer die Anstrengung und Reizgebung ist.
Je nach Persönlichkeit, Situation, Aufnahmebereitschaft, individueller Koordinationsstörung etc. entscheidet man im Feldenkrais-Unterricht, in welcher Reihenfolge und auf welche Art und Weise die Finger Kontakt zur Saite/Taste aufnehmen sollten. Eine pauschale, für alle gleich gültige Anweisung kann es dabei nicht geben. Nach bestimmten Schemata vorzugehen, ist hier eher kontraproduktiv. Vielmehr geht es darum, auf individuelle Art und Weise das Optimum an Bewegungsqualität und Spielfähigkeit zu erreichen.

Wichtig bei und nach jeder Kontaktaufnahme der Finger am Instrument ist, zu warten, bis sich eine aufkommende Überspannung im Körper gelegt hat und ein Spannungsungleichgewicht in der Hand abgeklungen ist. Erst dann ist ein unverkrampftes Weiterspielen möglich. Ein solches „Herantasten“ kann etliche Wochen dauern. Es geht zuerst nur darum, sich in idealer Weise, ohne jegliche Form von Fehlspannung, dem Instrument anzunähern und damit in einen Zustand zu kommen, von dem aus jegliche Aktivität frei und fließend möglich ist.

Nachdem auf diese behutsame Art und Weise eine Klarheit der Bewegung erreicht wurde, können dann später durchaus auch Druck- und Kontaktvariationen bewusst eingebaut werden. Dabei ist jedoch immer darauf zu achten, dass die jeweils nicht spielenden Finger weiterhin locker in den Grundgelenken schwingen, sich also gleichsam in einer Art Null-Stellung befinden, so dass weder Beuger noch Strecker aktiv sind.

Zusammenfassend hier weitere Gedanken und Ideen, die das Üben über das bereits Erwähnte hinaus grundsätzlich begleiten sollten:

– Erwartungslos sein
– Nicht die Absicht haben, es „richtig“ machen zu wollen
– Klangvorstellung und auch Intonation in der ersten Zeit der Umlernphase bewusst vernachlässigen, denn forciertes Korrigieren würde zu schnell erneut alte Gewohnheiten aufbrechen lassen
– In dieser Phase auch rhythmisch und metrisch frei spielen, d.h. erst dann weiterspielen, wenn der Körper die Bereitschaft dazu signalisiert und nicht wenn das Metronom es vorgibt
– Die Vorstellung der Bewegung der tatsächlich ausgeführten Bewegung voranstellen
– Ein gutes Wechselspiel zwischen Beuger- und Streckermuskulatur erreichen
– Die Finger federnd und elastisch bewegen
– Schnelle Wechsel zw. Spannung und Entspannung bewusst erlernen
– Nicht das Instrument üben sondern sich üben in der Kunst des Instrumentalspiels

Schlussbemerkung

Nun habe ich in kurzer Form versucht, all das zu beschreiben, was mir – wie auch anderen Musikern, mit denen ich als Feldenkraispädagogin bislang arbeitete – dazu verhalf, wieder als ausübende Instrumentalistin tätig sein zu können. Zum Verstehen und Verinnerlichen der aufgeführten Ideen benötigte es Zeit und Geduld. Damals, Mitte der 90er Jahre, waren fokale Dystonie und deren Lösungsansätze noch nahezu unerforscht. In diesem Zusammenhang die Feldenkraismethode anzuwenden, schien für manche noch sehr außergewöhnlich und befremdlich. Viele Aspekte der Methode, die der Physiker und Wissenschaftler Moshé Felden- krais bereits seit Mitte des letzten Jahrhunderts mit Überzeugung und großem Erfolg in seinem Unterricht anwandte – und von deren Wirkung auch ich fasziniert bin – konnten aufgrund des wissenschaftlichen Fortschritts in den letzten Jahren zweifelsfrei in ihrer Wirksamkeit bestätigt werden. Seither hat sich, in Mark Twain’schem Sinne, „die Sache durchgesetzt“!

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Literaturhinweise:

Moshé Feldenkrais
– Bewusstheit durch Bewegung, Frankfurt/Main 1978
– Die Entdeckung des Selbstverständlichen, Frankfurt/Main 1987
– Das starke Selbst, Anleitung zur Spontanität, Frankfurt/Main 1992

Roger Russel, Herausgeber
– Feldenkrais im Überblick, Karlsfeld 1999

Thomas Hanna
– Das Geheimnis gesunder Bewegung, Wesen & Wirkung Funktionaler Integration, Paderborn, 1994

Eugen Herrigel
– Zen in der Kunst des Bogenschießens, O.W. Barth 1983, 22. Auflage

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