Blockierte Schultern bei Legato und Spiccato


Ein Vorschlag zur kinästhetischen Erziehung für Musikstudenten

Von Hildegard Wind


Der Text ist die gekürzte und bearbeitete Fassung meines Vortrags (Instrumentalspielbezogene Körperwahrnehmung zur Vermeidung berufsbedingter Beschwerden bei Musikern) anlässlich des 9.europäischen Kongresses für Musikphysiologie und Musikermedizin in Freiburg vom 4.-6. April 2003 (Thema: „Prävention – berufsspezifische Gesundheitsförderung für Musiker“)

 

Mit meinen hier vorgetragenen Gedanken möchte ich der Frage nachgehen, ob die bewusste Wahrnehmung von Bewegungsabläufen am Instrument das Risiko minimieren kann, eine Berufskrankheit zu erleiden.

Die Motivation, mich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, resultiert primär aus eigener leidvoller Erfahrung im Umgang mit fokaler Dystonie, auch ‚Musikerkrampf’ genannt, die mich sogar zwang, meine Konzertmeistertätigkeit bei den Bamberger Symphonikern aufzugeben. Zehn Jahre Unterrichtstätigkeit als Geigendozentin an der Musikhochschule in Freiburg sowie meine Erfahrungen als Feldenkraispädagogin bei der Arbeit mit anderen Berufsmusikern, haben mich davon überzeugt, dass die Fähigkeit, kinästhetisch zu empfinden, eine wesentliche Hilfe darstellt zur Optimierung der Instrumentaltechnik. Gleichzeitig gewährleistet sie, dass bestehende oder im Entstehen begriffene berufstypische funktionale Einschränkungen besser erkannt, abgebaut oder sogar verhindert werden können.

Prävention ist notwendig und wichtig, aber wie lassen sich Musikstudenten zu präventiven Maßnahmen motivieren? Sicherlich nicht, indem man Angst vor möglichen Berufskrankheiten schürt. Für Studenten im Vollbesitz ihrer jugendlichen Kräfte ist es auf den ersten Blick nicht besonders interessant, sich mit Beschwerden auseinander zu setzen, die im professionellen Musikbetrieb auf sie zukommen könnten.

Allerdings vermitteln mehrtägige Orchesterarbeitsphasen bereits während des Studiums einigen eine Ahnung von dem, was ihnen bevorsteht. Oft klagen sie dann über Rücken- und Nackenschmerzen und insbesondere die Streicher unter ihnen sind betroffen von einer festen linken Hand samt miserabler Intonation – und das alles nach nur einer Woche Orchesterspiel! Nicht selten werden derartige Symptome gleichsam schicksalhaft hingenommen („so ist es eben im Orchester“) und Ratschläge zum Überstehen dieser anstrengenden Zeit erschöpfen sich in Tipps wie: „geh zur Massage, ins Fitness-Studio oder zum Schwimmen“. Als angenehmen Ausgleich bieten sich derartige Möglichkeiten sicherlich an. Aber damit lässt sich wohl nur bedingt der Umgang mit dem Instrument verbessern und langfristig können berufsspezifische Beschwerden dadurch nicht gänzlich vermieden oder behoben werden.

Müssten angesichts dieser frühen Orchestererfahrungen bei den Ausbildungsstätten nicht eigentlich sämtliche Alarmglocken läuten, da doch ein Großteil dieser Musiker später über 30 Jahre lang dieser Belastung ausgesetzt sein wird ? Geradezu zynisch und fatal wirkt da der in Pädagogenkreisen bisweilen geäußerte Verweis auf „natürliche Auslese“.

Wodurch unterscheidet sich nun das Orchesterspiel vom „privaten Übealltag“ eines Musikers? Zunächst kann man sich inmitten symphonischer Dynamik nicht mehr auf die Kontrolle durch das Hören verlassen und forciert das eigene Spiel, was eine größere Spannung und ungleich höheren Kraftaufwand mit sich bringt. Ferner ist man bestimmten Rahmenbedingungen unterworfen: es herrschen beengte Sitzverhältnisse, rechts oder links am Pult zu sitzen verändert das Spielgefühl und überhaupt ist das Spielen im Sitzen für viele Instrumentalisten ungewohnt. Weitere Faktoren sind das häufige Instrumentenabsetzen wegen ständiger Spielunterbrechung, fremdbestimmte Tempovorgaben durch den Dirigenten, die Art des Dirigats, und mitunter können Bogenstriche, die von den Stimmführern vorgegeben werden, einem im wahrsten Sinne des Wortes gegen den Strich gehen… Solche Einflüsse prägen den Orchesteralltag und fordern eine hohe Flexibilität von BerufsmusikerInnen. Statt erst im ‚Ernstfall Orchesterspiel’ unvorbereitet damit konfrontiert zu sein scheint es also sinnvoll, sich bereits im Studienalltag mit der Eigenwahrnehmung zu beschäftigen und eine bewusste Körperwahrnehmung zu schulen.

Wie nun lassen sich Präventivmaßnahmen in die Ausbildung integrieren?

Das Ziel der Studierenden ist es, ihr Instrument möglichst perfekt zu beherrschen, und diese starke Motivation bietet gewissermaßen das natürliche Einfallstor für eine pädagogische Unterstützung, die durch verfeinerte kinästhetische Wahrnehmung die technischen Möglichkeiten am Instrument erweitern und vervollkommnen kann. Der traditionelle Instrumentalunterricht ist meist ausgefüllt mit einer bestimmten Art von Technikvermittlung, mit der Erarbeitung musikalischer Gestaltungsmöglichkeiten und der Repertoireerweiterung. Zusätzlich aber könnte eine Art Wahrnehmungspädagogik angeboten werden, die keinesfalls als Konkurrenzveranstaltung angesehen werden darf, sondern als Erweiterung des klassischen Instrumentalunterrichts gelten sollte, sozusagen als fruchtbarer Nährboden, auf dem Technik besser gedeihen kann.

Die Feldenkraismethode, Alexandertechnik, Dispokinese u.a. können hierbei hilfreiches Werkzeug anbieten. (Die Vielfalt an Angeboten sorgt leider bei einigen unnötigerweise für Verwirrung; manch einer glaubt, sich entscheiden zu müssen, weiß aber nicht wofür, um es dann schließlich ganz zu lassen. Aber es gibt viele Berührungspunkte zwischen den genannten Methoden und das Ziel ist mehr oder weniger immer das gleiche: eine erhöhte Sensibilität zu effektiverem und gesünderem Instrumentalspiel zu erlangen.) Wesentlich bei der Arbeit mit Musikern ist meines Erachtens eine Offenheit für Ideen und Ansätze aus allen Bereichen, die der Bewegungsentwicklung dienlich sind, gepaart mit Instrumentalspielkenntnis.

Man erlebt im Instrumentalunterricht häufig, dass den Studenten Eigenempfindung, gute Koordination und ein Gespür für natürliche Bewegung am Instrument fehlen. Bei dem Hinweis beispielsweise: „Lass die Schulter unten“, passiert es häufig, dass die Schulter aktiv heruntergedrückt statt entspannt losgelassen wird, – und das heißt auch, dass der Schüler nur ausführt, was der Lehrer fordert, die Sache selbst jedoch weder als natürlich noch erleichternd erlebt. In einem anderen Fall spannte eine Geigerin, sobald sie das Instrument ansetzte, ihre Halsmuskulatur an. Auch schon eine passive Entgegennahme der Geige aus den Händen des Lehrers löste bei ihr diese Spannung reflexartig aus. Sie sah im Spiegel, wie die Halsmuskulatur ansprang, spürte es aber nicht und war infolgedessen auch nicht in der Lage etwas zu ändern. Es ist klar, dass dies sowohl die Qualität des Spiels beeinträchtigen als auch auf Dauer eine Überbelastung des gesamten am Instrumentalspiel beteiligten Bewegungsapparates bedeutet.

Solche und ähnliche Verhaltensweisen sind im Instrumentalunterricht beinahe täglich zu beobachten. Ein natürlicher und effektiver Zugang zum Instrument lässt sich jedoch finden, wenn die Betroffenen lernen, ihre Gewohnheiten wahrzunehmen und durch innere Aufmerksamkeit auf ihre Bewegungsmuster auch Alternativen zu entdecken und zu entwickeln.

Ich möchte ein konkretes Beispiel geben. Verschiedene Bogenstricharten machen einigen Geigern immer wieder besonders zu schaffen, wie etwa Sautillé in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, der schnelle Wechsel von legato zu spiccato oder das Durchhalten eines längeren Fortissimo-Tremolos. Eine der möglichen Ursache, die zu Schwierigkeiten führt, ist eine zu große, meist unbemerkte Anspannung im Schulterbereich. Manche Geiger ziehen schon beim Aufstrich unnötigerweise die Schultern hoch und lassen sie auch beim Abstrich nicht mehr gänzlich los. Eine weitere Bewegungseinschränkung entsteht dadurch, dass oftmals – nicht nur bei höchstem Espressivo sondern auch bei einfachen Kantilenen – sehr dominant der Brustmuskel anspringt, als müsste ein schwerer Gegenstand seitlich weggedrückt werden. Zu sagen: „Spiele mit weniger Kraft“, nützt erfahrungsgemäß nichts… Erfolgreicher ist es in vielen Fällen, zunächst die Aufmerksamkeit von der parasitär agierenden Brustmuskulatur wegzubringen und beispielsweise auf das Zusammenspiel der Schulterblätter mit der Armbewegung hinzulenken, also die Gegenbewegung zu erforschen und die Zusammenhänge zu erspüren, wie sich Kettenreaktionen innerhalb der Muskulatur und damit des Skeletts frei entwickeln können. Da ist es manchmal nötig, den Schüler Armbewegungen in anderen Positionen ausführen zu lassen (z.B. im Liegen oder Sitzen), damit er die gewohnte Muskelarbeit ausschalten und Alternativen entdecken kann. Man kann den Schüler z.B. auch einen Ball hochwerfen und auf verschiedenste Art und Weise wieder fangen lassen und ihn auffordern, währenddessen seine Aufmerksamkeit auf unterschiedlichste Bereiche zu lenken  – von der Muskelaktivität bis hin zur Gelenkbeweglichkeit. So umgeht man das reflexartige Verhalten, das sich mit der Bogenhaltung und Bogenführung schon über Jahre hinweg eingespielt hat und der Schüler spürt Zusammenhänge der Armbewegung in anderer Form. Im Anschluss an diese spielerisch erworbenen Erkenntnisse kann es wichtig sein, sie konkret auf das Instrumentalspiel zu übertragen, damit sie nicht nur als angenehme, neu entdeckte Empfindung für sich stehen bleiben.

Wer sich mit einer blockierten Schulter beschäftigt, muss mit sehr vielschichtigen Zusammenhängen rechnen. Mitunter hängen Schulterblockaden mit eingeschränkter Atmung und festgezurrtem Brustkorb zusammen, oft ausgelöst durch Angst und Lampenfieber. Viele Musiker können ihre Körpermitte nicht als ‚Auffangstation’ für die loszulassenden Schultern empfinden und einigen gelingt erst dann die Lösung, wenn sie die Spannung in den Beinen bemerken, die entsteht, weil sie Halt suchend am Stuhl „kleben“ und somit unbewusst gegen die Schwerkraft angehen. Ein Geiger, mit dem ich arbeitete, wurde seine Beschwerden in der rechten Schulter erst los, nachdem er aufhörte, den linken Daumen zu stark gegen den Geigenhals zu drücken.

Ein Patentrezept zur Beseitigung bestehender Beschwerden gibt es nicht. Unbedingt erforderlich ist eine persönlich gestaltete Betreuung, deren Umfang mitunter den Rahmen des klassischen Instrumentalunterrichts sprengen kann, zu diesem aber in unmittelbarer Verbindung stehen sollte. Sind optimale Bewegungsmöglichkeiten erst einmal entdeckt und erspürt, hier also eine frei agierende Schulter, ist eine wichtige Voraussetzung für schnelle und mühelose Bogenstrichartwechsel geschaffen. Die nachweislich dadurch verbesserte Fingerfertigkeit und ein müheloseres Armheben ziehen insgesamt eine größere dynamische Ausdrucksmöglichkeit nach sich.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass mit einem kinästhetischen Ansatz die Grundlage für ein effektiveres Spiel gelegt werden kann. Gleichzeitig erschließt sich durch die so geweckte Bewegungssensibilisierung die Möglichkeit, im späteren Berufsleben auf verschiedene innere und äußere Einflüsse und deren Auswirkung auf Körper und Spiel „selbstbewußt“ reagieren zu können. Das Risiko einer Fokalen Dystonie könnte hierdurch wesentlich verringert werden.

Um einem professionellen Musiker den „Hochleistungssport“ Instrumentalspiel lebenslang zu ermöglichen, hielte ich es für dringend erforderlich, folgende Anregungen umzusetzen:

 

  1. Die oben ausgeführte kombinierte Unterrichtsform des wahrnehmungspädagogischen Instrumentalunterrichts sollte in die Berufsausbildung integriert werden, wie es an manchen Hochschulen bereits ansatzweise praktiziert wird.
  2. Berufsmusikern sollte zeitweise die Möglichkeit gegeben werden, in Form einer Fortbildung (unter dem Aspekt des körperorientierten Instrumentalunterrichts) betreut zu werden. Sowohl Ausbildungsstätten als auch Orchester und andere Arbeitgeber können hier Unterstützung anbieten, die keine Therapie für Kranke ist sondern Training bzw. Weiterbildung für Musiker.